Eine Erkrankung schreitet voran, und plötzlich wird das Gehen schwierig. Moderne Hilfsmittel unterstützen Betroffene so lange und so gut wie möglich, mobil und unabhängig zu bleiben. Ob Rollatoren, Antriebe oder Elektrorollstühle – es gibt für viele Stadien einer Erkrankung Hilfsmittel.
Der Körper verliert bei neurologischen oder muskulären Erkrankungen immer mehr an Beweglichkeit und Kraft. Eine solche progrediente, also fortschreitende Erkrankung erschwert die Mobilität erheblich. Für Betroffene sind individuelle Strategien wichtig, damit sie so lange wie möglich mobil bleiben und ihre Lebensqualität erhalten.
Oft machen sich bei einer progredienten Erkrankung am Anfang kleine Einschränkungen im Alltag bemerkbar. Zum Beispiel beim Gehen oder auch bei einfachen Tätigkeiten im Haushalt oder im Beruf. Betroffene finden heute praktische Hilfsmittel für den Alltag – von kleinen bis zu grossen Helfern, die Auswahl ist vielfältig.
Die Krankheit der tausend Gesichter
In diesem Artikel dient Multiple Sklerose (MS) als Beispiel einer fortschreitenden Erkrankung. MS ist eine chronische Erkrankung des zentralen Nervensystems. Kennzeichnend sind Entzündungen und Schädigungen der Myelinschicht, welche die Nervenfasern umgibt. Diese Schädigungen lösen verschiedene Symptome aus, die je nach Person sehr individuell ausgeprägt sind. Häufig tritt eine Muskelschwäche auf, begleitet von Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen, die das Gehen und das Stehen erschweren. Sehstörungen können die Wahrnehmung beeinträchtigen, oder eine Fatigue kann zu einer anhaltenden Erschöpfung führen.
Auch kognitive Veränderungen sind möglich, die das Denken, das Erinnern und die Konzentrationsfähigkeit beeinflussen. Wegen der vielfältigen Symptome und Veränderungen nennt man MS auch «Krankheit der tausend Gesichter». Dieser Artikel behandelt die motorischen, die muskulären und die koordinativen Auswirkungen und zeigt, welche Hilfsmittel Betroffene zu welchem Zeitpunkt unterstützen.
Rollatoren geben Halt
Viele MS-Erkrankte empfinden die ersten Hilfsmittel als grosse Umstellung. «Wir merken in unseren Beratungen oft, dass Betroffene sehr lange warten, bevor sie ein Hilfsmittel nutzen», sagt Markus Wietkamp. Er leitet das Hilfsmittelzentrum der SAHB in Oensingen. Viele erkrankte Personen greifen in einem ersten Schritt zu einem Hilfsmittel, das in zahlreichen Haushalten zu finden ist: zu Walkingstöcken. Diese sind sehr leicht, verstellbar und unterstützen Betroffene beim Gehen längerer Strecken.
Wenn neben dem fortschreitenden Kraftverlust auch Unsicherheiten in der Koordination und im Gleichgewicht auftreten, ist ein Rollator eine wertvolle Hilfe im Alltag. Je nach Bedarf gibt es Modelle für unterschiedliche Einsatzbereiche – von leichten, wendigen Varianten für Innenräume bis zu stabileren Modellen für draussen. Viele Betroffene bevorzugen einen vielseitigen Rollator, den sie sowohl drinnen als auch draussen nutzen können.
Welcher Rollstuhl ist der passende?
Welcher Rollstuhl ist der passende? Wenn sich ihr Zustand verschlechtert, können Betroffene kurze Distanzen drinnen oft noch mit Gehstöcken oder einem Rollator zurücklegen. Draussen ist nun, besonders für längere Strecken, ein Rollstuhl nötig. Doch welches Modell ist das passende? Bei den Handrollstühlen unterscheidet man zwischen Basisrollstühlen, Spezialrollstühlen und Adaptivrollstühlen.
Basis- und Spezialrollstühle
Basisrollstühle werden oft von Personen genutzt, die keine langen Strecken mehr zurücklegen können, sonst aber ohne Hilfsmittel unterwegs sind.
Spezialrollstühle sind Pflegerollstühle für Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, den Rollstuhl selbstständig anzutreiben. Solche Modelle verfügen über eine Rückenneigung, Sitzkantelung und hochstellbare Beinstützen, damit man die Position der nutzenden Person im Verlauf des Tages ändern kann. Ein Beispiel: Verlagert man die Person vom Sitzen in eine horizontale Position, lässt sich tagsüber ein Transfer ins Bett vermeiden.
Adaptivrollstühle
«MS-erkrankten Personen empfehlen wir einen Adaptivrollstuhl, der sich zusammenfalten lässt und mit wegschwenkbaren, abnehmbaren Beinstützen ausgestattet ist», erklärt Markus Wietkamp. Der Grund: Fixe Beinstützen werden schnell zur Stolperfalle, sobald eine Person den Transfer aus dem Rollstuhl nicht mehr über den Stand machen kann. Im Vergleich zu einem Basisrollstuhl lässt sich ein Adaptivrollstuhl besser konfigurieren und einstellen. Es gibt faltbare Modelle oder solche mit Festrahmen.
MS-Erkrankte, die ihren Handrollstuhl täglich benutzen, stellen mit der Zeit fest, dass ihr Aktionsradius trotzdem sehr beschränkt ist. Das liegt daran, dass bei MS nebst den unteren Extremitäten oft auch die oberen betroffen sind. Werden die Arme schwächer, lässt sich ein Handrollstuhl nicht über einen längeren Zeitraum mit reiner Muskelkraft antreiben. Für das Bewältigen längerer Strecken gibt es kraftschonende Hilfsmittel, dank denen Betroffene selbstständig von A nach B gelangen: Antriebe.
Kraftunterstützende Antriebe
Kraftunterstützende Geräte sind elektrische Zusatzantriebe, die den Vortrieb eines manuellen Rollstuhls erleichtern. Sie verstärken die Antriebskraft der nutzenden Person und verringern so die körperliche Anstrengung – besonders bei Steigungen, unebenem Gelände oder längeren Strecken. Meist motorisiert, sorgen sie für ein sanftes und effizientes Fortbewegen und erhöhen die Mobilität im Alltag. Im Gegensatz zu den Elektrorollstühlen verstärken kraftunterstützende Antriebe die eigene Antriebskraft der nutzenden Person gezielt, anstatt den Rollstuhl vollständig elektrisch anzutreiben. Je nach Bedarf passen die Nutzenden die Unterstützung an – sei es für leichte Verstärkung bei ebenem Boden oder für mehr Schub beim Bergauffahren.
Antrieb von hinten, Zugkraft von vorn
Auf dem Hilfsmittelmarkt gibt es viele Antriebe, die zusätzlich an den Handrollstuhl angebaut werden können. Dies entweder hinten am Rollstuhl als Heckantrieb oder vorn als Zuggerät (Bild 5). Heckantriebe haben kompakte, leistungsstarke Motoren, die sich an den Hinterrädern eines manuellen Rollstuhls befestigen lassen. Sie erleichtern es, längere Strecken zurückzulegen, Steigungen zu bewältigen und auf unebenem Gelände zu fahren. Das ist sehr kraftsparend, denn Nutzende brauchen nur noch den Rollstuhl zu steuern. Der Antrieb sorgt für ein natürliches Fahrgefühl und übernimmt das Fortbewegen in anspruchsvollen Umgebungen wie Rampen oder holprigen Wegen.
Vorspanngeräte
Vorspanngeräte lassen sich beim Handrollstuhl an- und abkuppeln. Man unterscheidet zwischen kraftunterstützenden und elektrischen Modellen. Bei Ersteren funktioniert der Antrieb wie bei einem Velo, aber mit den Armen statt den Beinen. Nutzende fahren vollständig mit ihrer Muskelkraft. Solche Geräte sind ideal für Personen mit uneingeschränkter Beweglichkeit in den oberen Extremitäten. Häufig werden sie von Paraplegiker/ innen verwendet. Modelle mit elektrischer Unterstützung ermöglichen ein müheloses Fortbewegen, indem sie den Rollstuhl eigenständig ziehen. Die meisten Vorspanngeräte sind schneller als andere Antriebe und haben eine grössere Reichweite.
Elektrische Zusatzantriebe bei Handrollstühlen
Wer im Rollstuhl sitzt, bewegt sich mit einem zusätzlichen E-Motor leichter fort – das spart Kraft und steigert die Unabhängigkeit. Der kleine Antrieb (Bild 7), mit dem sich ein Rollstuhl einfach nachrüsten lässt, macht das Leben unterwegs angenehmer. Einige der wichtigsten Vorteile sind:
Körperliche Anstrengung reduzieren
Der grösste Vorteil eines elektrischen Zusatzantriebs ist die Entlastung des Körpers. Das manuelle Antreiben eines Handrollstuhls erfordert viel Kraft, was auf längeren Strecken schnell ermüdend sein kann. Der Zusatzantrieb entlastet die Gelenke, insbesondere die Schultern, aber auch die Arme. Das verringert langfristig das Risiko von Überlastung und Schmerzen.
Mobilität und Reichweite erhöhen
Elektrische Zusatzantriebe ermöglichen es, längere Strecken mit weniger Kraftaufwand zurückzulegen. Besonders für Menschen mit eingeschränkter Ausdauer oder Muskelkraft sind sie eine wertvolle Unterstützung im Alltag.
Auch schwieriges Gelände wie Kopfsteinpflaster, Gras oder Sand lässt sich leichter bewältigen. Selbst Steigungen, die sonst nur mit grosser Anstrengung zu meistern wären, vereinfacht ein Antrieb deutlich – Nutzende sind nicht auf die Hilfe anderer angewiesen.
Unabhängiger sein
Ein elektrischer Zusatzantrieb ermöglicht es Rollstuhlfahrenden, sich fortzubewegen, ohne auf die Unterstützung von Begleitpersonen angewiesen zu sein. Dadurch sind sie im Alltag flexibler. Zudem sind diese Antriebe vielerorts einsetzbar: Sie erleichtern das Fortbewegen in Innenräumen wie auch auf unwegsamem Terrain, etwa auf Parkwegen und Waldwegen oder bei widrigen Wetterbedingungen.
Komfortable und flexible Handhabung
Viele Zusatzantriebe lassen sich mit wenigen Handgriffen an- und abmontieren. Dadurch bleibt die Flexibilität erhalten – Nutzende können je nach Situation entscheiden, wann sie die Unterstützung einsetzen möchten. Einige Modelle bieten zudem eine individuelle Steuerung. Durch diese stellen Nutzende den Grad der elektrischen Unterstützung je nach Bedarf ein. So bleibt die Fortbewegung jederzeit komfortabel und gut kontrollierbar.
Lebensqualität steigern
Weniger körperliche Belastung bedeutet mehr Energie für den Alltag. Wer Muskeln und Gelenke schont, ist weniger erschöpft und müde und hat weniger Schmerzen. So können Betroffene auch spontane Ausflüge unternehmen und bleiben insgesamt aktiver. Diese gewonnene Freiheit sorgt für eine gesteigerte Lebensqualität und mehr Unabhängigkeit bei der Wahl von Aktivitäten und Zielen.
Auf den Elektrorollstuhl umsteigen
Ein elektrischer Zusatzantrieb für Handrollstühle macht das Fahren komfortabler und bietet Unterstützung, wenn die Muskelkraft nachlässt. Er ermöglicht es Rollstuhlfahrenden, ihre Mobilität zu erweitern, ohne sofort auf einen vollelektrischen Rollstuhl angewiesen zu sein.
Doch was, wenn das eigenständige Antreiben des Handrollstuhls zunehmend schwerfällt oder ein selbstständiger Transfer in den und aus dem Rollstuhl nicht mehr möglich ist? Dann lohnt es sich, auf einen Elektrorollstuhl umzusteigen. Ein Schritt, der dennoch gut überlegt sein will.
Während ein Elektrorollstuhl viele Vorteile bietet, wie mehr Unabhängigkeit und grösseren Komfort, bringt er auch Herausforderungen mit sich. «Um richtig zu entscheiden, ist es wichtig, dass Interessierte ihre individuellen Bedürfnisse abwägen und sich umfassend beraten lassen», so Markus Wietkamp.
Wann ein Elektrorollstuhl Sinn macht
Wenn die Muskeln schwächer werden und die Ausdauer schwindet, strengt das Anschieben eines Handrollstuhls die Arme zu sehr an – die Person ermüdet schnell. Gerade für längere Strecken bietet ein Elektrorollstuhl (Bild 8) eine wertvolle Entlastung und ermöglicht weiterhin ein aktives Leben.
Vorteile
Das Gelände spielt eine entscheidende Rolle. Während Handrollstühle auf ebenem Untergrund gut funktionieren, stossen sie auf unebenen Wegen, bei Steigungen oder auf Kopfsteinpflaster oft an ihre Grenzen. Elektrorollstühle sind für solche Herausforderungen besser geeignet, da sie zusätzlichen Komfort bieten und stabil sind. Sie erleichtern das Fahren auf Rampen, hügeligem Gelände oder unbefestigten Wegen und erweitern so den Bewegungsradius erheblich.
Im Gegensatz zu Handrollstühlen lassen sich viele Elektrorollstühle individuell anpassen und auf die jeweiligen körperlichen Bedürfnisse abstimmen. Funktionen wie ein verstellbarer Sitz (Bild 9), flexible Fussstützen oder anpassbare Steuerungsmöglichkeiten, wie per Joystick, Knopfdruck oder mit den Augen, erhöhen den Komfort. Nutzende mit einem optimal auf ihre Bedürfnisse eingestellten Elektrorollstuhl sind im Alltag mobiler und unabhängiger.
Nachteile
Elektrorollstühle sind in der Regel schwerer und grösser als Handrollstühle, was den Transport erschweren kann. So ist es manchmal schwierig, den Rollstuhl in einem Auto zu verstauen. Es sei denn, es gibt ein speziell umgebautes Auto. Auch kann die Technik herausfordernd sein. So brauchen einige Nutzende womöglich länger, um sich an sie zu gewöhnen. Insbesondere, wenn der Elektrorollstuhl über komplexe Steuermechanismen oder Funktionen verfügt.
Beratung und ausprobieren – das A und O
Eine Versorgung mit einem Elektrorollstuhl steht an, was tun? «Wir empfehlen Betroffenen immer, sich professionell beraten zu lassen und passende Modelle auszuprobieren», führt Markus Wietkamp aus. Bei der Wahl des Rollstuhls ist eine enge Zusammenarbeit mit Fachleuten aus Physiotherapie, Ergotherapie, dem Fachhandel für Mobilitätshilfen oder der SAHB entscheidend. Wer bei der Mobilität mehr Unterstützung benötigt, profitiert immens von einem Elektrorollstuhl.
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