Früher gehörte ein Dekubitus bei einer Querschnittlähmung dazu – heute ist die Medizin viel weiter. KD Dr. med. Anke Scheel-Sailer, leitende Ärztin Paraplegiologie beim Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ), ist spezialisiert auf Dekubitus. «Aktiv werden statt abwarten» ist ihr Motto. Sie unterstützt Patient/innen auf ihrem Weg zur Genesung.
Bis zum Zweiten Weltkrieg galt die weitverbreitete Meinung, dass ein Druckgeschwür zu einer Querschnittlähmung dazugehört. Einer hat das nicht geglaubt: Sir Ludwig Guttmann. Der Begründer der modernen, umfangreichen Behandlung einer Querschnittlähmung beschäftigte sich in den 1940er-Jahren ausgiebig auch mit der Vermeidung von Dekubitus. Er stellte zudem fest, dass ein regelmässiges Drehen der Patient/innen und die konsequente Druckentlastung die Gewebeverletzungen verhindern können.
Auch bei genauem Hinsehen kann man einen Dekubitus übersehen
Seit damals hat sich viel getan. Zahlreiche medizinische Fachleute haben sich der Erforschung und Behandlung von Dekubitus verschrieben. Darunter auch KD Dr. med. Anke Scheel-Sailer. Sie ist leitende Ärztin Paraplegiologie beim SPZ in Nottwil – und Dekubitus ist ihre Leidenschaft. «Ich sehe beim Anblick von Dekubitus mehr als eine Wunde; ich sehe faszinierende Zusammenhänge», erklärt sie und sagt weiter: «Natürlich ärgere auch ich mich kurz, wenn eine Druckwunde auftritt, aber dann will ich einen Weg finden, sie zusammen mit der betroffenen Person zu heilen.»
Doch ein Dekubitus hat es in sich. «Wir wissen, bei welchen Konstellationen ein Dekubitus auftritt und wer gefährdet ist», erzählt sie. Trotz gutem Lagern, genauem Beobachten und Aufklären der Betroffenen kann ein Dekubitus im ersten und zweiten Stadium manchmal sehr schnell auftreten. Zusätzlich zur guten Beobachtung der Haut ist das Abtasten der besonders gefährdeten Hautstellen wichtig.
Manchmal entsteht der Dekubitus zuerst in der Tiefe
Es gibt Situationen, in denen auf der Haut nichts ersichtlich ist. Doch in der Tiefe hat sich eine Gewebeschädigung entwickelt, und die zu behandelnde Person klagt über eine geschwollene Stelle. Ohne Vorankündigung bricht die Haut dort auf, und es gibt ein Loch im Gewebe, manchmal bis auf den Knochen.
Betroffene sensibilisieren
Ist ein Dekubitus da, sind schimpfen und Schuldige suchen für Anke Scheel-Sailer der falsche Ansatz. Dekubitus kommt vor, auch wenn man alles dagegen tut. «Es gilt, einen zweiten Dekubitus zu verhindern», erzählt die Fachärztin. Ein Weg dazu ist, die Patient/innen zu sensibilisieren und zu schulen. So, dass sie sich und ihren Körper besser kennenlernen, im Sinne ihrer Gesundheit handeln und neue Verhaltensweisen in den Tag integrieren. Dies unter Einbezug ihrer Wünsche und Bedürfnisse.
Alle arbeiten zusammen
Tritt ein Dekubitus auf, ist rasches Handeln gefragt. Im ersten Stadium sorgen Pflegende für Druckentlastung, wägen Risikofaktoren ab und wählen ein passendes Hilfsmittel wie eine Spezialwechseldruckmatratze. Im zweiten Stadium gibt es ein Verbandskonzept. Der Dekubitus wird gesäubert, sodass sich die Haut wieder schliessen kann. Hier ist das Ziel eine gute Feuchtigkeitsbilanz der Haut.
Wenn ab dem dritten Stadium Löcher in der Haut entstehen, dauert die Behandlung länger. Es braucht chirurgische Konzepte, allem voran eine operative Reinigung der Wunde. Ein bis zwei Wochen später folgt eine Lappenplastik – hierbei werden Gewebedefekte chirurgisch beseitigt. Des Weiteren erhalten die Patient/innen unter anderem Physio- und Ergotherapie, Narbenmassagen, Psychotherapie und Elektrostimulationen. Auch die Ernährung, die Vitaminzufuhr und die Elektrolyte spielen eine Rolle, so wie das Anpassen der Hilfsmittel. Um die Heilung zu fördern, stellen die Fachleute alle Massnahmen auf die betroffene Person ein. Eine stationäre Behandlung dauert 10 bis 15 Wochen.
Was Betroffene und Gefährdete tun können
Betroffenen und Gefährdeten rät die Fachärztin: «Werden Sie aktiv, statt ab- zuwarten», und ergänzt: «Hinschauen ist besser als Wegsehen.» Sie empfiehlt, sich in Selbsthilfe zu üben und sich in Foren mit anderen Betroffenen auszutauschen. Auf der Website des SPZ gibt es beispielsweise eine Community für Menschen mit Querschnittlähmungen, ihre Familien und Freunde. Zudem sollten Betroffene Pflegedienste wie die ParaHelp nutzen, die nach Hause kommen, und Kontakte zu spezialisierten Zentren, wie der SAHB, aufbauen.
Anke Scheel-Sailer liegt viel daran, dass Betroffene und Pflegende Dekubitus nicht als Frust, sondern als Herausforderung sehen. «Am Ende ist es eine Freude, wenn eine Wunde geheilt ist und die Person nach Hause kann», sagt sie. Für die Patient/innen ist die Behandlung eines Dekubitus im besten Fall eine Reise zu sich – eine Erfahrung, sich besser kennenzulernen.
Zur Person
KD Dr. med. Anke Scheel-Sailer ist seit dem Jahr 2006 Ärztin Paraplegiologie sowie seit 2014 Leiterin Forschung Rehabilitationsqualitätsmanagement beim Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil. Ihre Spezialgebiete sind die Paraplegie, Qualität im Management Rehabilitation, internistische und psychosomatische Rehabilitation, Komplikationsbehandlungen und -diagnostik sowie Dekubitusbehandlungen. Nach ihrem Abschluss zur Fachärztin hat sie in Basel mit PD Dr. med. Roland de Roche, Schüler von Prof. Dr. med. Nicolas Lüscher und Prof. Dr. med. Walter Seiler, gearbeitet – allesamt Vorreiter im Erforschen von Dekubitus. Anke Scheel-Sailers Interesse war geweckt, bis heute ist sie von Dekubitus fasziniert. Neben ihrer Arbeit im SPZ ist sie auch als klinische Dozentin an der Universität Luzern tätig.
Zentrum für Menschen mit Querschnittlähmung
Das Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil (LU) ist eine private, landesweit anerkannte Spezialklinik für die Akutmedizin, die Rehabilitation und die Integration von Menschen mit Querschnittlähmung. Im SPZ stehen 204 Betten inklusive Intensivpflegestation zur Verfügung. Das SPZ beschäftigt über 1200 Personen und wurde 1990 von Dr. med. Guido A. Zäch eröffnet. Für die Weiterentwicklung der Dekubitusbehandlung besteht eine enge Zusammenarbeit mit der plastischen Chirurgie der Universitätsklinik Basel, mit Prof. Dr. med. Dirk Schaefer und PD Dr. med. Reto Wettstein.
Die Spezialklinik gehört zur Schweizer Paraplegiker-Gruppe, die ein integrales Netzwerk zur ganzheitlichen Rehabilitation von Querschnittgelähmten umfasst. Träger des Netzwerks ist die Schweizer Paraplegiker-Stiftung. www.paraplegie.ch
Bildquelle: Schweizer Paraplegiker-Stiftung
Textquelle: https://sahb.ch/exma-vision/ausgaben-2021-2022/
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