Unterstützte Kommunikation

«Menschen mit Dyslexie und Dyskalkulie brauchen Förderung»

Kinder und Erwachsene werden als dumm oder faul abgestempelt, weil sie Mühe haben mit Lesen und Rechtschreiben. Sind sie von einer Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) betroffen, spielen Genetik und Umwelt eine grosse Rolle. Was können Betroffene und Angehörige tun? Das erläutert Monika Brunsting, früheres Vorstandsmitglied des Verbandes Dyslexie Schweiz (VDS), im Gespräch.

Was sind Dyslexie und Dyskalkulie überhaupt?

Von Dyslexie oder Dyskalkulie spricht man bei Menschen, die im Lesen, im Rechtschreiben oder im Rechnen sehr grosse Schwierigkeiten haben, die nicht auf eine geringe Intelligenz zurückgeführt werden können. Dyslexie und Dyskalkulie können auch zusammen auftreten. Man geht heute von einer genetischen Komponente aus und hat auch schon verschiedene Gene identifiziert, die eine Rolle zu spielen scheinen. Deshalb treten Dyslexie und Dyskalkulie in vielen Familien gehäuft auf.

Auch die Umwelt ist wichtig: Das Lesen, das Rechtschreiben und das Rechnen muss man lernen. Genetische Voraussetzungen können das Lernen erschweren. Es braucht dann mehr oder anderes Lernen und viel Unterstützung. Bei schweren Fällen muss man akzeptieren, dass auch die beste Förderung das Problem nicht lösen kann und eine Behinderung bestehen bleibt. Diese ermöglicht in der Schule oder der Ausbildung einen Nachteilsausgleich. Übrigens: Nicht selten ist auch eine AD(H)S mit dabei und erschwert das Lernen zusätzlich.

Wann und warum wurde der Verband Dyslexie Schweiz ins Leben gerufen?

Eltern von Betroffenen haben den Verband Dyslexie Schweiz im Jahr 1994 gegründet. In der Romandie gibt es seit 1996 übrigens einen eigenen Verband, die association Dyslexie suisse romande (aDsr). Eltern von Kindern mit Dyslexie haben Unterstützung für die Anliegen und Probleme ihrer Kinder gesucht. Sei dies zwecks Abklären oder Fördern der Kinder oder für den Erfahrungsaustausch unter den Eltern.

Der Verband ist dank dem Engagement aller Beteiligten schnell gewachsen. Heute zählen wir rund 700 Mitglieder. Darunter sind Eltern und Fachleute, wie Lehrpersonen, Heilpädagog/innen und Logopäd/innen, aber auch Erwachsene mit Dyslexie.

Was sind die wichtigsten Botschaften, die Sie mit dem VDS an die Öffentlichkeit weitergeben wollen?

Lesen und Rechtschreiben sind elementar, um das Leben autonom zu bewältigen. Ein Beispiel: Wie kann eine Person ein Ticket am Automaten kaufen, wenn sie den Text nicht richtig lesen kann oder die Destination falsch eintippt? Auch möchten wir auf die vielen Probleme aufmerksam machen, die Betroffene und ihre Bezugspersonen bewältigen müssen. Wir führen deshalb jedes Jahr eine grosse Tagung durch, an der Teilnehmende Erfahrungen und Wissen teilen sowie Kontakte finden.

Uns macht die Tatsache ziemlich nachdenklich, dass bis vor ca. 15 Jahren die Situation deutlich besser war. Es gab damals in der ganzen Schweiz personelle und finanzielle Ressourcen: Therapeut/innen sowie Mittel für Förderung und Therapie standen zur Verfügung. Es gab die Möglichkeiten, Klassen, Kindern und Eltern beim Bewältigen der schwierigen Situationen zu helfen.

Heute ist dies nur noch in wenigen Kantonen möglich. Schwere Fälle werden heute von Logopäd/innen betreut – doch häufig sind die personellen Ressourcen zu knapp für eine optimale Therapie. Förderung und Therapie von Kindern mit Dyslexie und Dyskalkulie sind Prozesse, die meist viele Jahre dauern.

Wie viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind in der Schweiz von einer LRS oder Dyskalkulie betroffen?

Bei Kindern im Schulalter schätzt man, dass zehn bis fünfzehn Prozent betroffen sind. Dabei sind rund fünf Prozent sehr schwer betroffen, zehn Prozent sind mittlere bis leichtere Fälle.

Bei Erwachsenen geht man im Allgemeinen von rund zehn Prozent Illettristen aus. Das sind Menschen, die das Lesen und das Schreiben maximal auf dem Niveau der 3. Klasse beherrschen. Allerdings sind nicht alle davon Legastheniker, also Menschen mit einer diagnostizierten LRS. Denn auch andere Sprachschwierigkeiten, Fremdsprachigkeit oder mangelhafte Schulbildung können zu ähnlichen Bildern führen.

Welche Mythen um LRS halten sich hartnäckig?

«Dyslexie, Dyskalkulie gibt es nicht. Es sind einfach Kinder, die Mühe haben zu lernen.» Ja, es kann nicht nur Kinder geben, die leicht und gut lernen. Ein Teil der Schulkinder erzielt trotz gutem Unterricht, guter Intelligenz und trotz allen Bemühungen nur ungenügende Lernfortschritte. Das sind dann eben Kinder mit Dyslexie oder Dyskalkulie.

«Wer nicht gut lesen, rechtschreiben oder rechnen kann, ist dumm oder faul!» Diesen Mythos finden die Betroffenen ebenso ärgerlich wie wir. Dumm ist man mit Dyslexie oder Dyskalkulie sicher nicht, denn genau das wird mit einer Abklärung explizit ausgeschlossen. Faul ist man auch nicht – aber oft mit den Jahren sehr entmutigt.

«Viele wollen sich mit der Diagnose Vorteile verschaffen.» Mit einer aktuellen Diagnose kann man in Schule und Ausbildung einen Nachteilsausgleich beantragen. Dieser versucht, einen Teil des Nachteils auszugleichen. Der Lern- und Prüfungsstoff bleibt gleich, nur die Prüfungsmodalitäten werden individuell angepasst. Ein Nachteilsausgleich ist kein Vorteil, kann aber helfen, den Nachteil zu verringern. Aber: Ohne klare Diagnose gibt es keinen.

Wie verläuft nach Ihren Erfahrungen eine typische Schullaufbahn eines Kindes mit einer LRS?

Die Schulzeit ist eine grosse Leidenszeit. Schulerfolg ist Mangelware. Manchmal erreichen die Kinder die Klassenziele nicht, und ehe sie sich versehen, werden sie zum Kind mit besonderen Lernzielen. Das entspricht dem Status eines früheren Sonderklassenschulkindes. Leider wird damit das Problem der Dyslexie oder Dyskalkulie nicht gelöst: Das Kind schliesst irgendwann die Schule ab, auch wenn es nicht richtig lesen oder schreiben kann. Meist erreichen Kinder den Schultypus nicht, den sie aufgrund ihrer Intelligenz eigentlich bewältigen könnten. Schulen finden oft, mit so schlechten Schriftsprachkenntnissen sei eine Sekundarschule oder ein Gymnasium nicht zu schaffen. Hier zeigen sich langsam erfreuliche Fortschritte durch das Anwenden des Nachteilsausgleichs.

Als Folge dauernder schulischer Misserfolge entstehen oft psychische Probleme. Ängste, Depressionen oder Schulabsentismus machen sich breit. Betroffene brauchen oft auch eine Psycho- oder Lerntherapie.

Wie kann sich eine LRS im Kindesalter im Erwachsenenleben auswirken?

Vor einigen Jahren erschütterte das Schicksal eines etwa 45-jährigen Mannes viele Menschen in der Schweiz: Der Mann fand sich infolge seiner Dyslexie im Leben nicht zurecht. Er hörte irgendwann auf, Briefe zu öffnen oder zu lesen. Er bezahlte keine Rechnungen mehr, bis die Gemeinde einspringen und ihm helfen musste. Eine Welle der Empathie wogte durch die Schweiz. Leider ist diese Geschichte inzwischen schon wieder vergessen. Sicher ist aber: Das ist nicht der einzige Fall in der Schweiz, und das sollte wirklich nicht sein!

Es kommt auch vor, dass ein junger Mensch den Wunschberuf nicht erlernen kann. Glücklicherweise gibt es heute viele flexible Lösungen für schwierige Fälle. Sodass Betroffene ihre Ziele über Umwege auch in fortgeschrittenem Alter erreichen können.

Was können Betroffene tun?

Seit ein paar Jahren gibt es den Nachteilsausgleich, der auf dem Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) beruht. Demnach ist es nicht erlaubt, Menschen aufgrund ihrer Behinderung zu diskriminieren. Personen mit einer LRS können nach einer psychodiagnostischen Untersuchung und der klaren Diagnose einen Nachteilsausgleich erhalten. Dieser dient dazu, diese spezifische Behinderung etwas aufzufangen. So werden nicht Prüfungsinhalte angepasst, sondern nur formale Punkte wie ein Zeitzuschlag oder eine mündliche statt einer schriftlichen Prüfung.

Doch viele Betroffene müssen heute für einen Nachteilsausgleich kämpfen. Es ist noch nicht selbstverständlich, ihn zu beantragen und auch zu erhalten. In den letzten Jahren haben vermehrt Erwachsene eine Abklärung und einen Nachteilsausgleich gesucht, weil sie in einer Weiterbildung sonst nicht bestehen würden. Auch Lernende brauchen manchmal einen Nachteilsausgleich. Der VDS hat verschiedene Psycholog/innen akkreditiert, die solche Abklärungen durchführen, denn Abklärungsstellen für Erwachsene sind schwer zu finden.

Kann sich aus einer schweren LRS im Erwachsenenalter ein funktionaler Analphabetismus entwickeln?

Das ist eine Frage der Betrachtung. Menschen mit schwachen Fertigkeiten in der Schriftsprache können als funktionale Analphabeten oder als Dyslektiker betrachtet werden. Egal, wie man es nennt: Es bedeutet immer, dass hier jemand grosse Schwierigkeiten hat. Man kann in jedem Alter an diesen Schwierigkeiten arbeiten – aber mit zunehmendem Alter wird es herausfordernder. Hinzu kommt, dass Erwachsene je nach Beruf nicht mehr viel lesen und schreiben müssen und das auch in der Freizeit vermeiden. So kann es tatsächlich passieren, dass sie diese Fertigkeiten langsam verlernen.

Der Nachteilsausgleich und die integrative Förderung haben sich in den letzten Jahren etabliert, und die Technik hat sich weiterentwickelt. Was für Erfahrungen haben der VDS sowie Eltern und Betroffene mit Hilfsmitteln wie iPads, Laptops, Apps und Software gemacht?

Es werden laufend neue Hilfsmittel entwickelt, und die Erfahrungen sind sehr positiv. Allerdings müssen Betroffene meist dafür kämpfen, um im Rahmen eines Nachteilsausgleichs Hilfsmittel benützen zu dürfen. Der VDS hält regelmässig Workshops zum Thema.

In sehr vielen Berufen wird heute häufig am PC geschrieben oder vom Bildschirm gelesen. Beides geht sehr viel einfacher dank der Vorlesefunktion und dem Korrekturprogramm des Textverarbeitungsprogramms. Das eröffnet Betroffenen Berufsfelder, die ihnen vor wenigen Jahren noch verschlossen waren.

Lohnen sich aus Ihrer Erfahrung Investitionen in elektronische Hilfsmittel? Dies im Hinblick auf die Integration in den ersten Arbeitsmarkt.

Auf jeden Fall. Man sollte Menschen nicht zusätzlich behindern, indem man ihnen Hilfsmittel verwehrt. Da gibt es noch viel zu tun. Der VDS ist dran und froh über die wertvolle Arbeit der SAHB.

Zur Person

Dr. Monika Brunsting ist Lehrerin, Schulpsychologin, Kinder- und Jugendpsychologin, Psychotherapeutin und Sonderpädagogin. Sie arbeitet in der Lehrerfortbildung verschiedener Kantone, unter anderem auch an der Hochschule für Heilpädagogik Zürich. Zudem ist sie ist Autorin von Fachartikeln und Büchern zum Thema Lernen, Lernschwierigkeiten, ADHS und Stress. Sie war bis vor Kurzem Vorstandsmitglied im Verband Dyslexie Schweiz (VDS).

Quelle: Exma INFO 3/2021

Von Karina Peters 29.09.2021 Ein Kommentar
Sabina Bollhalder
12.11.2023, 18:43

Vielen Dank für diesen Blog. Unsere Tochter hatte eine sehr schwierige Schulzeit. Sie hat eine starke Dyskalkulie. Sie wurde schikaniert und misverstanden bis sie Depressionen bekam. Jetzt ist sie 35 und hat ihren Weg gefunden. Leider geht es unserer Enkelin jetz auch so!!!!

Antwort to Sabina Bollhalder

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