Ein Rollstuhl bringt ganz kleinen Kindern mehr, als man denkt. Sie lernen, sich selbstständig fortzubewegen, erweitern ihren Radius und entdecken die Welt. Dinge, die für andere Kinder selbstverständlich sind. Damit ein Rollstuhl für die Kleinsten zu einem passenden Hilfsmittel wird, gibt es einiges zu beachten.
Sich bewegen ist grundlegend für die menschliche Entwicklung – auf allen Gebieten. Es ist eine der wichtigsten Möglichkeiten des Menschen, auf seine Umwelt zu reagieren und einzuwirken. Er kann so seine Umwelt verändern, gestalten, ungünstige Situationen verlassen oder günstige aufsuchen.
Durch das Entfalten der motorischen Fähigkeiten begreift und erfährt ein Kind seine Umwelt. Es erweitert und erforscht seinen Lebensraum, wird unabhängig und macht neue Erfahrungen, die für seinen weiteren Weg entscheidend sind. Die motorische Entwicklung ist grundlegend, um die kognitiven und geistigen Leistungen zu entfalten.
Das Gleichgewichtsorgan stimulieren
Wer sich bewegt, stimuliert auch das Gleichgewichtsorgan im Innenohr. Durch dieses erhält das Gehirn unter anderem Informationen über die Muskel- und Sehnenspannung, die Muskellänge, die Stellung der Gelenke und die Position des Körpers im Raum. Ändert das Kind die Körperposition, löst das Gleichgewichtsorgan grobmotorische Reflexe aus. Diese versuchen, die veränderte Lage auszugleichen. Durch das permanente Wiederholen dieser Sinnesreizung lernt das Kind in den ersten zwölf bis 18 Lebensmonaten, seine Bewegungen zu kontrollieren. So entwickelt sich in dieser Zeit ein Kleinkind, das frei gehen, seine Umwelt erkunden und beeinflussen kann.
Entwicklung bei motorischen Einschränkungen
Was geschieht bei Kindern, deren Entwicklung aufgrund einer körperlichen Einschränkung erschwert ist? Wenn es ihnen nicht möglich ist, ihre Lage im Raum zu verändern, sich aufzurichten und das Laufen zu erlernen? Für Eltern ist es oft ein Schock, wenn sie zum ersten Mal von der körperlichen Einschränkung des eigenen Kindes erfahren. Danach setzen sie alles daran, damit ihr Kind die normalen motorischen Fähigkeiten erlernt. Eltern, aber auch Therapeutinnen und Therapeuten sorgen dafür, dass das Kind eines Tages Laufen lernt. So werden in der Therapie schon früh die nötigen Grundlagen trainiert. Das beginnt beim Stehen, das für die Ausbildung der Hüfte, für die Verdauung oder die Atmung sehr wichtig ist. Die Kinder werden mit geeigneten Hilfsmitteln in die stehende Position gebracht. Später trainieren sie mit Hilfe von speziellen Gehtrainern das Laufen. Das Kind empfindet diese Übungen häufig als anstrengend. Bewegung wird aus seiner Sicht zu einem Muss und ist nur dann möglich, wenn ihm Drittpersonen dabei helfen.
Kinder haben ein natürliches Bedürfnis nach Bewegung
Jedes Kind möchte selbstbestimmt, in seinem Tempo und nach seinen Vorstellungen vorwärtskommen. Bewegt sich ein Kind nur im therapeutischen Rahmen, schränkt dies das natürliche Bedürfnis nach Bewegung ein. Damit bleibt ihm die wichtige Stimulation des Gleichgewichtsorgans versagt. Ohne diese wird eine Kette von Spätfolgen provoziert, zum Beispiel:
- Fortbestand von reflexbedingten Bewegungsmustern
- Fehlende Rumpf- und Kopfkontrolle
- Wahrnehmungsdefizite
- Spasmen
- Verkürzung von Muskeln, Sehnen und Bändern (Kontrakturen)
- Kreislauf-, Stoffwechsel- und Verdauungsprobleme
Rollstühle für Kleinkinder als Lösung
Alle Eltern wünschen, dass sich ihr Kind zu einem selbstständigen, aufgeweckten, motivierten und fröhlichen Menschen entwickelt. Dies gilt auch für Eltern von körperlich eingeschränkten Kindern: Sie investieren viel, um ihr Kind zu unterstützen. Wer sein Kind – ergänzend zu den therapeutischen Massnahmen – im Alter von etwa zwölf Monaten mit einem Rollstuhl versorgt, trägt viel dazu bei, dass sich dieser Wunsch erfüllt.
Häufig stösst dieser Vorschlag bei Eltern auf Abwehr und Skepsis. Sie denken, dass ein Rollstuhl die letztmögliche Lösung ist. Eine Lösung, die das Kind am Erlernen des Laufens hindert, die Passivität fördert und die Einschränkung für alle sichtbar macht. Doch stimmt das?
Ein Rollstuhl fördert die frühkindliche Entwicklung
Der erste Rollstuhl ermöglicht dem Kleinkind elementare Entwicklungsschritte: Es lernt in aufrechter Haltung mobil zu sein. Der Rollstuhl gleicht die fehlenden motorischen Möglichkeiten aus. Dabei ist die Stimulation des Gleichgewichtorgans viel wichtiger als der Ausgleich der physischen Defizite.
Sitzen Kleinkinder das erste Mal in einem Rollstuhl, erleben Eltern eindrücklich, welche Freude es ihnen bereitet, ihre Fortbewegung selber zu bestimmen. Die meisten Kinder finden schnell heraus, wie der Rollstuhl funktioniert. Sie erleben erstmals, wie es ist, sich willentlich von den Eltern zu entfernen und zu ihnen zurückzukehren. Sie leben so ihren natürlichen Entdeckertrieb aus. Dies kann auch zu Konflikten führen, welche die Eltern bis dahin nicht kannten. Das gehört aber zu einer normalen Entwicklung.
Spielerisch die Welt entdecken
Mit dem Rollstuhl entdeckt ein Kind spielerisch die Welt und erfährt, dass es durch eigene Fortbewegung etwas erreichen kann: zum Beispiel Spielsachen, ein Geschwister oder die Eltern. Das Kind erobert so den Raum und kann mit Gleichaltrigen mithalten.
Ein Kind früh mit einem Rollstuhl zu versorgen, ist für seine Entwicklung entscheidend. Die Versorgung gibt ihm die Möglichkeit, wichtige Erfahrungen zu sammeln, die ihm durch seine körperliche Einschränkung sonst verwehrt blieben. Das Kind kann die neu gewonnene Mobilität spielerisch testen – in seinem eigenen Tempo und in einem Rahmen, den seine Einschränkung zulässt. Es erlebt Bewegung als positiv, das weckt Lust auf mehr. Dies unterstützt auch die begleitende Therapie zur weiteren motorischen Entwicklung.
Der frühkindliche Rollstuhl
Worauf ist zu achten, wenn ein kleines Kind den ersten Rollstuhl erhält? Der Rollstuhl ergänzt therapeutisch notwendige Massnahmen wie etwa das Stehtraining oder Übungen zur Rumpfstabilisierung. Der Rollstuhl ermöglicht dem Kind auf einfache Art und Weise, sich selber fortzubewegen. Deshalb ist es wichtig, ihn auf die besonderen Bedürfnisse seines kleinen Benutzers oder seiner kleinen Benutzerin anzupassen.
Eine Frage der Einstellung und des Gewichts
Ein Rollstuhl muss einen stabilen Sitz mit guter Führung des Rumpfes und einen guten Halt im Becken gewährleisten. Dadurch kann das Kind die Arme bewegen und sich fortbewegen. Korrektes Sitzen ist auch deshalb wichtig, weil so die Verkrümmung der Wirbelsäule (Skoliose) und Kontrakturen vermieden werden.
Die Sitzhöhe des Rollstuhls und der Schwerpunkt müssen optimal eingestellt sein. Sitzt das Kind zwischen den Rädern statt über den Rädern, fehlt ihm die Kraft zum Antreiben des Rollstuhls.
Ein Rollstuhl für Kindern darf nicht zu schwer sein. Ein aktiver Rollstuhl für einen ca. 70 kg schweren Erwachsenen wiegt zwischen 7 und 11 kg. Ein sehr leicht gebauter Kleinkinderrollstuhl für drinnen wiegt 3 kg. Sobald sich ein Kind draussen bewegen kann, was je nach Einschränkung mit etwa drei Jahren der Fall ist, darf der Rollstuhl zwischen 6 und 10 kg schwer sein, obwohl das Kind vielleicht gerade mal 15 kg wiegt. Je schwerer der Rollstuhl im Verhältnis zum Körpergewicht, desto wichtiger sind die Einstellungen.
So wenig wie möglich, so viel wie nötig
Der Rollstuhl soll dem Kind ein selbstständiges Fortbewegen ermöglichen. Gerade bei Kinderrollstühlen ist die Gefahr gross, dass sie mit viel Zubehör für die Begleitpersonen ausgestatten werden – an das das Kind wird nicht gedacht. Doch mit jedem Zubehör wird der Rollstuhl schwerer. Das wirkt sich auf das Handling aus. Die Devise lautet also: so wenig wie möglich und so viel wie nötig.
Zur Grundausstattung des Rollstuhls gehören:
- Lenk- und Antriebsräder;
- eine gut angepasste Sitzfläche;
- eine gute und stabile Rückenführung;
- eine Fussplatte, auf der das Kind einen guten Kontakt mit der Unterlage hat;
- eine Bremse, die das Kind selber bedienen kann.
Ein einfaches Seitenteil für den Einsatz drinnen oder ein Radspritzschutz für draussen gibt seitlichen Halt und schützt die Kleidung. Ein Rollstuhl, der gut angetrieben werden kann, hat die Antriebsräder relativ weit vorne und kippt daher schnell nach hinten. Zwei Antikippstützen vermeiden ein unbeabsichtigtes Kippen. Ein Greifreifen mit einer speziellen Beschichtung ist sinnvoll, weil damit die Kraft besser auf das Rad übertragen wird, das erleichtert die Fortbewegung. Ein Speichenschutz schützt die Finger des Kindes vor Verletzungen.
Kinderrollstühle haben meist einen beachtlichen Radsturz: Die Antriebsräder sind so montiert, dass sie gegen den Boden weiter auseinander stehen. Dies gibt dem Rollstuhl seitliche Stabilität und macht ihn wendiger. Beides ist für kleine Rollstuhlfahrende vorteilhaft.
Ein Rollstuhl soll auch gefallen
Kinder können einen Rollstuhl ohne Armlehnen einfacher antreiben, ausserdem haben sie mehr Bewegungsfreiheit. Auf Armlehnen wird oft verzichtet, wenn Kinder für gewisse Tätigkeiten einen Tisch brauchen. Es gibt Modelle, bei denen man einen kleinen Tisch am Rahmen montieren kann.
Ein Rollstuhlsitz ist optimal angepasst und eingestellt, wenn das Kind ohne zusätzliche Gurten stabil sitzt. Natürlich gibt es Fälle, in denen ein Gurt notwendig ist. Zum Beispiel, um das Herausfallen bei einem spastischen Anfall zu verhindern.
Natürlich soll der Rollstuhl auch gefallen: So ist eine ansprechende Farbe wichtig. Der Rollstuhl soll zum Kind und nicht zu den Vorstellungen der Erwachsenen passen. Wenn ein kleiner Junge lieber einen rosa statt einen blauen Rollstuhl wünscht, dann sollte man ihn nicht davon abbringen. Wichtig ist, dass der Kleine mit seinem Flitzer zufrieden ist. Es gibt auf dem Markt einige Anbieter, die auch für kleinste Benutzerinnen und Benutzer hervorragende Modelle bauen.
Ausrüstung für Begleitpersonen
Es ist verständlich, dass Begleitpersonen das Kind auch mal schieben möchten. Dafür eignen sich abnehmbare Schiebebügel sehr gut. Die Begleitpersonen bringen sie an, wenn das Schieben erforderlich ist, und nehmen sie danach wieder ab. So fallen die Schiebebügel nicht ins Gewicht, wenn das Kind den Rollstuhl selber antreibt.
Ein Kleinkinderrollstuhl wiegt zusammen mit dem Kind etwa 20 kg. Dieses Gewicht kann eine Begleitperson in der Regel auch ohne zusätzliche Bremsen abwärtsbewegen. Trommelbremsen sind die am häufigsten angebotenen Bremsen für Begleitpersonen. Wird ein Rollstuhl mit solchen ausgerüstet, erhöhen diese das Gesamtgewicht und die Breite des Rollstuhls. Andere Bremsen werden über einen Kabelzug auf die Fahrerbremse geleitet. Sie machen ein dosiertes Bremsen relativ schwierig, und die Pneus – oder je nach Modell die Gummis der Bremsen – nützen schneller ab. Scheibenbremsen sind leicht und wirken sich kaum auf die Gesamtbreite aus. Sie werden jedoch selten angeboten. Ein weiterer Nachteil von Begleitpersonenbremsen ist, dass der Schiebebügel oder die Schiebegriffe immer am Rollstuhl angebracht sein müssen, da an diesen die Bremsgriffe befestig sind. Wie oben erwähnt sind Schiebgriffe oder Schiebebügel jedoch störend beim selbstständigen Fahren.
Wie kommt mein Kind zu seinem Rollstuhl?
Die Eltern und Fachleute aus der Therapie entscheiden in den meisten Fällen gemeinsam über die erste Rollstuhlversorgung. Anschliessend füllt eine Ärztin oder ein Arzt eine Verordnung aus. Anhand dieser klärt der ausgewählte Fachhändler den passenden Rollstuhl für das Kind ab und erstellt eine Offerte. Mit dieser beantragen die Eltern den Rollstuhl bei der Invalidenversicherung (IV). Übernimmt die IV die Kosten, bestellt der Fachhändler den Rollstuhl und passt ihn individuell an die Bedürfnisse der Kinder an. Da dieser Prozess relativ lange dauert, lohnt es sich, das Projekt Rollstuhl frühzeitig in Angriff zu nehmen. Damit das Kind so früh wie möglich losflitzen kann.
Textquelle: https://sahb.ch/exma-vision/ausgaben-2019-2020/
Toller Beitrag! Ich finde es richtig gut, wie gezeigt wird, dass Rollstühle Kleinkindern mit motorischen Einschränkungen so viel mehr Selbstständigkeit und Freude an der Bewegung ermöglichen. Es ist wichtig, dass die Vorurteile aufgegriffen werden und klar wird, wie positiv ein Rollstuhl die Entwicklung der Kinder beeinflussen kann.
Sehr interessanter Blog! Das Thema Kinder und Rollstühle wurde perfekt auf den Punkt gebracht!
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